Mittwoch, 4. November 2009

Vom Ende einer Welt der Sicherheit ins Zeitalter des Chaos

Vortrag von Prof. Roberto de Mattei anläßlich der Vorstellung des Buches Der Adel und die vergleichbaren traditionellen Eliten in den Ansprachen von Pius XII. an den Adel und das Patriziat von Rom


Wir nähern uns dem hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Bald werden es hundert Jahre her sein, dass an jenem 28. Juni 1914 die Revolverschüsse von Sarajevo des Ende einer Epoche ankündigten. Heute wird es immer deutlicher, dass der Erste Weltkrieg in der europäischen Geschichte einen keineswegs geringeren Bruch darstellt als die Französische Revolution, denn auch in diesem Fall handelte es sich um eine Revolution.

Talleyrand hat einmal beheuptet, dass einer, der nicht schon vor 1789 gelebt hat, nicht weiß, was Lebenfreude ist. Heute können wir ähnlich behaupten, dass einer, der nicht vor 1914 gelebt hat, nicht weiß, was eine Welt der Sicherheit bedeutet.

Vielleicht sollte man sich noch einmal die Seiten des Buches Die Welt von Gestern (1941) von Stefan Zweig (1881-1942) zu Gemüte führen. In diesem Buch schreibt Zweig, dass sich die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg am besten mit dem Begriff „goldenes Zeitalter der Sicherheit“ umschreiben lässt. In der fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien es, als sei alles auf Dauer angelegt, und selbst der Staat habe einen Eindruck unerschütterlicher Festigkeit verbreitet. Niemand habe geglaubt, es könnte Krieg, Revolution oder Umsturz geben. Im Zeitalter der Vernunft musste jedes radikale, gewaltsame Vorgehen als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen.

Der fortschreitende Verlust der Sicherheit durchzieht wie ein roter Faden des 20. Jahrhundert, ein Jahrhundert der Kriege und Revolutionen, wenngleich die großen Totalitarismen noch halbwegs eine Illusion von Sicherheit anzubieten vermochten. Heute haben der Fall der Mauer und der Einsturz der Twin Towers das Gefühl der Sicherheit in der westlichen Welt endgültig erschüttert, denn es war ein Gefühl, das sich auf die Festigkeit der beiden sich gegenüberstehenden Supermächte Russland und Amerika stützte.

Das Zeitalter der Unsicherheit, in dem wir heute leben, ist das Zeitalter des Chaos auf allen Ebenen. Es sind auch bereits Bücher erschienen, die den bedeutsamen Titel Geopolitik des Chaos tragen. Die Geopolitik des Chaos bezieht das kulturelle und moralische Chaos, das aus dem Relativismus und der Identitätskrise unserer Zeit hervorgegangen ist, auf eine Ebene, die die nun ganze Welt umfasst. Und zum allgemeinen politischen Chaos gesellt sich das noch schwerwiegendere wirtschaftliche Chaos. Die Säulen der Wirtschaft wanken und unser tägliches Leben sieht sich selbst in seinen materiellsten Aspekten bedroht.

Diese Identitätskrise macht vor keinem Wert und keiner Institution halt, weder vor der Familie noch vor der Nation, ja sie dringt sogar in das Innerste der Kirche vor, wo sich die dramatische Frage stellt: Hat Europa, hat unsere Zivilisation noch eine Zukunft? Steht die europäische und abendländische Zivilisation vor einem nicht mehr rückgängig zu machenden Untergang, ist sie todkrank oder kann sie ihr Leiden überwinden? Gibt es die Möglichkeit, dass Europa wiederaufersteht?


Fünfzig Jahre nach dem Tod Pius XII.

Die Antwort gibt uns fünfzig Jahre nach seinem Tod die Stimme des Dieners Gottes Pius XII., dieses großen Papstes, dessen Seligsprechung Benedikt XVI. bereits in Aussicht gestellt hat.

Am Ende seiner ersten, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschienen Enzyklika Summi Pontificatus hat Pius XII. die tiefere Natur der Übel angeprangert, die damals die internationale Gemeinschaft bedrängten, und als Lösung auf die Rückkehr zur natürlichen, christlichen Ordnung hingewiesen.

An der Spitze dieses Werkes der Evangelisierung der Gesellschaft sollte nach Pius XII. eine neue Führungsschicht stehen, die sich zu einem großen Teil aus dem Adel und den traditionellen Eliten zusammensetzen sollte. An diese richtete der Papst 1946 bis 1957 einen systematischen Appell in seinen jährlichen Ansprachen an das Patriziat und den Adel von Rom. In seiner Ansprache vom 14. Januar 1945 hatte er bereits gemahnt: „Man kann heute sagen, dass es die ganze Welt wiederaufzubauen gilt: Die Weltordnung muss wiederhergestellt werden. Die materielle Ordnung, die geistige Ordnung, die moralische Ordnung, die gesellschaftliche Ordnung, die internationale Ordnung – alles muss umgestellt und in eine regelmäßige, beständige Bewegung gebracht werden. Diese von der Ornung ausgehende Ruhe ist der Frieden, der einzig wahre Frieden, und dieser kann nur dann wiedererstehen und von Dauer sein, wenn die menschliche Gesellschaft auf Christus aufgebaut ist, in dem alles vereinigt, zusammengefasst und zusammengeführt werden muss: Instaurare omnia in Christo (Eph 1,10)“.

Prof. Plinio Corrêa de Oliveira hat wie wenige die Bedeutung und Aktualität der Ansprachen Pius XII. erfasst und sie deshalb in einem Buch zusammengetragen und mit seinen Kommentaren vertieft. Dieses Werk ist von 1993 an in Italienisch und anderen Sprachen erschienen und liegt nun heute auch auf Deutsch vor. Die fünfzehn Jahre, die seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, haben seine Aktualität und seine Voraussicht nur noch größer werden lassen.
Prof. Plinio Corrêa de Oliveira meint dazu: „Wer die Verlautbarungen des Papstes liest, kann ohne weiteres erkennen, dass es ihm darum ging, dieser ungeheuren Revolution mit ihrem Gegenteil, das heißt mit der Gegenrevolution zu begegnen, einer Gegenrevolution, die viele Traditionen vor dem Ruin bewahren sollte und manchen anderen, die trotz ihrer Hinfälligkeit durchaus noch ihre Daseinsberechtigung haben, die Möglichkeit geben sollte, sich zu erheben und zu neuem Leben zu erwachen.“


Der Naturalismus und der Aufbau der modernen Zivilisation

Als Revolution hat Plinio Corrêa de Oliveira in Übereinstimmung mit dem Lehramt der Kirche den Prozess der Entchristlichung definiert, der seit vielen Jahrhunderten gegen die abendländische Zivilisation angeht. Die wichtigsten Etappen dieses Prozesses wurden vom Humanismus und dem Protestantismus, von der Aufklärung und der Französische Revolution, dem Kommunismus und den Totalistarismen des 20. Jahrhunderts gebildet. Sie alle werden von dem roten Faden des Stolzes durchzogen, mit dem der Mensch versucht, Gott seine Rechte über die Gesellschaft abzusprechen.

In den Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhunderts, wie etwa im Idealismus und im Positivismus, steht allein der Mensch im Mittelpunkt des Kosmos. Mit seiner Vernunft und seinem Willen erhebt er den Anspruch, die Natur zu beherrschen und die Geschichte zu ihrem Ziel zu führen. Indem sie all ihr Vertrauen auf das Individuum setzt, wie zum Beispiel in ihrer liberalen Phase, oder aber auf die Kollektivität, wie in ihrer sozialistischen Phase, vergöttert die Revolution den Menschen und verlässt sich auf eine Möglichkeit der „Selbsterlösung“ in und durch die Geschichte. Der Gedanke des Fortschritts als notwendiges Gesetz der Geschichte bildet das „Dogma“, auf dem der Gedanke der Modernität beruht.

Im 19. Jahrhundert tritt der von Marx und Lenin vertretene „wissenschaftliche Sozialismus“ als das Werkzeug auf, mit dem sich das neue Gebäude der modernen Zivilisation errichten lässt, deren Symbole die Megalopolen und Fabrikschornsteine darstellen. Die neue „Zivilisation der Arbeit“ würde nach der marxistischen Utopie endlich eine anarchische, egalitäre, klassenlose Gesellschaft errichten. Die Menschheit hat für diese Utopie einen schrecklichen Preis zahlen müssen: Kriege, Revolutionen, hunderte von Millionen Opfer auf der ganzen Welt. Niemals war so oft von Fortschritt und Menschenwürde die Rede, und niemals ist im Lauf der Geschichte so viel Blut geflossen, um dem Fetisch der Modernität ein wahres Brandopfer darzubringen.

Der Fall der Berliner Mauer (1989) und der Twin Towers von New York (2001) wurde zum Ausdruck des symbolischen Zusammenbruchs des revolutionären Naturalismus. Auf dem Weg vom Humanismus zum Marxismus wollte die Revolution in ihrem Stolze eine selbständige natürliche Ordnung errichten, die weder Gott noch seine Gnade braucht. Der Bankrott der naturalistischen Utopie hat dann allerdings zu einem Projekt mit gegenteiligem Vorzeichen geführt.

Dem Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts wird in unseren Tagen die Dekonstruktion entgegengesetzt, die aus den Theorien der Fahnenträger des „schwachen“ oder „postmodernen“ Denkens hervorgegangen ist. So wie die Revolution gestern die christliche Zivilisation im Namen einer auf den selbsterlöserischen Kräften des Menschen errichteten Zivilisation geleugnet hat, so leugnet diese heute selbst die Möglichkeit des Menschen, irendeine Art von Zivilisation aufzubauen. Der Feind ist nun nicht mehr die übernatürliche Ordnung, sondern die natürliche Ordnung. Heute geht es der Revolution darum, ein Projekt völliger Dekonstruktion der menschlichen Natur und ihrer Gesetze durchzuführen.


Die menschliche Natur

Was aber ist die menschliche Natur? Nach den Worten des heiligen Thomas ist Natur „das das auf die Funktion des Dinges selbst ausgerichtete Wesen eines Dinges“ (essentiam rei secundum quod habet ordenem ad propriam operationem) . Die Natur ist das, was ein Seiendes ausmacht und ihm erlaubt, seinem Zweck entsprechend zu handeln. Im Falle des Menschen ist die Natur sein Wesen, d. h. das, was ihn zum Menschen und nicht zu etwas anderem macht. Diese Natur veranlasst den Menschen, nicht einfach allen Trieben seines Körpers nachzugeben, sondern sie nach einer Regel oder einem Gesetz zu ordnen und zu bestimmen. Mit den Tieren hat der Mensch seine physische Natur gemein, doch was diese von ihm unterscheidet, ist seine rationale Natur. Das Naturgesetz ist demnach nicht einfach das tierische Gesetz der Lebewesen, sondern die sittliche, metaphysische Ordnung des Geschöpfes, das der Mensch mit seiner Vernunft entdecken kann.

Die Natur trägt eine Grenze in sich, die besagt, dass einem Wesen unmöglich ist, etwas anderes zu werden, als das, was es ist. In dem Maße, in dem der Mensch versucht, die Grenzen seines eigenen Wesens und seiner Natur zu überwinden oder zu leugnen, verliert er die Fähigkeit, das ihm eigene Ziel zu verwirklichen. Wenn der Mensch aber sein Ziel aus den Augen verliert, strebt er danach zu werden, was er nicht ist: Er strebt ins Leere, er gerät in den Sog des Nichts. Damit steht der Nihilismus unvermeidlich am Ende der Verneinung des Naturgesetzes.

Die Legalisierung der Sünden gegen die Natur, wie dies etwa die Homosexualität und die Zulassung genetischer Versuche sind, müssen als ein dramatisches Beispiel dieser Zweckentfremdung des Menschen angesehen werden. Die in allen Zeitungen erschienene Nachricht vom sogenannten „schwangeren Mann“ lassen einen angesichts des dahinter steckenden Nihilismus erschaudern. In Oregon in den Vereinigten Staaten hatte eine homosexuelle Frau beschlossen, Mann zu werden. Mit Hilfe plastischer Operationen und Hormonbehandlungen hat sie zwar das Aussehen eines Mannes und den männlichen Namen Thomas Beatie angenommen, doch in ihrem Körper besitzt sie weiterin den weiblichen Fortpflanzungsapparat. Danach hat sie eine Frau geheiratet, die wie sie selbst homosexuell ist und von der sie natürlich keine Kinder bekommen kann. Sie beschloss also, sich an eine „Samenbank“ zu wenden. Aus der anonymen Befruchtung ist schließlich ein Mädchen hervorgegangen, das am 2. Juli 2008 auf die Welt kam. Dieses Mädchen hat eigentlich keine Eltern. Sein biologischer Vater ist ein anonymer Samenspender, während sein offizieller Vater in Wirklichkeit die biologische Mutter ist. Die offizielle Mutter ist nicht seine biologische Mutter, sondern die Lebensgefährtin des offiziellen Mutter-Vaters. Man kann sich schwerlich eine radikalere Leugnung der Naturgesetze vorstellen.

Nachrichten dieser Art lösen zwar noch Abscheu aus, doch bilden sie die Spitze eines Prozesses, dessen Reichweite nur wenige durchschauen.

Pius XII. behauptet, dass der Staat und die Familie die Säulen der Gesellschaft und ihre grundlegenden Bestandteile bilden, weil sie ihren Ursprung in der Natur haben. Der heute vorherrschende kulturelle und moralische Relativismus leugnet die Existenz einer naturgegebenen, konstitutiven gesellschaftlichen Wirklichkeit. Für das Europa ohne Grenzen, das 1992 mit dem Vertrag von Maastricht geboren wurde, haben nicht allein die geographischen Grenzen und die wirtschaftlichen und politischen Barrieren zwischen den Staaten zu fallen, sondern auch die natürlichen Identitätsunterschiede, angefangen bei dem ersten und größten von allen, dem Unterschied zwischen Mann und Frau.

Mit dem Abkommen von Lissabon, das am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der 27 Länder unterzeichnet wurde, die die Europäische Union bilden, wird die am 7. Dezember 2000 in Nizza verabschiedete Charta rechtskräftig. In dieser Charta wird nicht nur jeder Hinweis auf die christlichen Wurzeln Europas ausgeklammert, sondern auch der Versuch gemacht, diese Wurzeln, die ja nicht nur historischer, sondern grundlegender Natur sind, völlig auszurotten.

Der Artikel 21 der Rechtecharta von Nizza, der der Vertrag von Lissabon obligatorischen Charakter verleiht, gibt in juristischer Sprache und unter der Bezeichnung eines Nichtdiskriminierungsprinzips die sogenannte „Gender-Theorie“ zum Ausdruck, die das biologische Geschlecht von der sexuellen „Neigung“ oder „Geschlechtsidentität“ unterscheidet. Demnach soll sich der Unterschied zwischen Mann und Frau nicht mehr auf das objektiv von der Natur Gegebene stützen, sondern auf die subjektive Neigung und Wahl.
Es geht hier nicht etwa um einen Grenzfall. Das Naturgesetz wird in einer von einem großen Teil der europäischen Staats- und Regierungschefs unterzeichneten Urkunde in seiner Wurzel geleugnet.

In einem großen europäischen Land, nämlich im Spanien Zapateros, hat das Parlament einen Gesetzesentwurf gutgeheißen, der im Namen des Nichtdiskriminierungsprinzips einige Menschenrechte, angefangen mit dem Recht auf Leben, auf die Menschenaffen (Schimpanzen, Gorillas und Orang-Utas) ausdehnt, genau das Recht auf Leben also, das man andererseits den Embryos abspricht. Auch hier handelt es sich nicht um einen Extremfall, sondern um den Versuch, etwas als normal anzusehen, was allen natürlichen und sittlichen Normen widerspricht.


Der Posthumanismus der IV. Revolution

Auf den wenigen, jedoch prophetischen Seiten, die Prof. Plinio Corrêa de Oliveira als Nachwort zur italienischen Ausgabe von Revolution und Gegenrevolution (1977) geschrieben hat, werden all die Elemente aufgezählt, die zum Verständnis des Prozesses notwendig sind, der die Vierte Revolution ausmacht. Der Postkommunismus nimmt nun die Gestalt eines Posthumanismus an. Bei dieser Vision geht es um die Überwindung des Menschen und um den Übergang vom alles umfassenden Humanismus zur umfassenden Zerstörung des menschlichen Subjekts.

Dreißig Jahre sind vergangen, seit Plinio Corrêa de Oliveira die heraufziehende IV. Revolution beschrieben hat. Heute geben Wissenschaften wie die Neuropharmakologie, die Gentechnik oder die Nanotechnik den Handwerkern des Nichts neue Mittel in die Hand, damit sie ihre tribalen Szenarien verwirklichen können.

Außer der Unterscheidung zwischen Mann und Frau wird auch die zwischen der Menschen-, der Tier- und der Pflanzenwelt hinfällig, ja sogar der Unterschied zwischen den organischen und den anorganischen Daseinsformen. Die radikale Ökologie spricht von einem kosmischen Egalitarismus, der auch die Bestandteile der Natur wie die Berge, die Pflanzen, das Wasser, die Atmosphäre und die Landschaften einbezieht. Es handelt sich hier um eine pantheistische Weltanschauung, nach der das Universum aus einem unermesslichen Gewebe von Beziehungen besteht, sodass jedes Wesen durch ein anderes lebt und sich die Gottheit als das „Selbstbewusstsein“ des Universums herausstellt, das sich, indem es sich entwickelt, seiner eigenen Entwicklung bewusst wird.

Das Prinzip der „Nichtdiskriminierung“ hebt die philosophische Grundlage der abendländischen, christlichen Zivilisation aus den Angeln, nämlich das Prinzip der Identität und der Nichtwidersprüchlichkeit. Die Nichtdiskriminierung hebt in Wirklichkeit die Identität auf, sie bedeutet die Hybridisierung und Verschmelzung dessen, was wesentlich verschieden ist. Es handelt sich um ein Merkmal, das uns stets in gnostischen und pantheistischen Systemen begegnet.

In dieser posthumanen Perspektive wird auch der Unterschied zwischen Mensch und Maschine hinfällig. Der Gedanke einer Symbiose von Mensch und Maschine hat vor allem mit der Entwicklung der Informations- und Digitaltechnik an Boden gewonnen. Der Begriff Cyborg wird auf neue Hybriden angewandt, unter denen man Menschen versteht, die durch den Zusatz von mechanischen Prothesen oder technischen Komponenten verändert wurden. Vor allem der Einsatz der Nanotechnik erlaubt möglicherweise die Einführung von miteinander verbundenen winzigen Nanorobotern in den Blutkreislauf oder ins Gehirn, wo sie sich zu einer Art künstlicher Intelligenz zusammenschließen können, d. h. „zu einem echt hybriden Wesen aus biologischer und nichtbiologischer Intelligenz“.

Anders als der Cyborg mit seinen biologischen und künstlichen Teilen ist der Androide nichts als ein Roboter mit menschlichem Aussehen oder ein künstlich zusammengebauter Mensch. Ein menschliches Wesen dieser Art wurde zum ersten Mal in dem Roman Frankenstein von Mary Shelly (1818) beschrieben, der oft als der erste Science-fiction-Roman angesehen wird. Heute aber sind die Versuche des Dr. Frankenstein nicht mehr nur Literatur, sondern Wirklichkeit.

Prof. Aldo Schiavone, ein postkommunistischer italienischer Intellektueller, widmet ein Kapitel seines jüngsten Buches Geschichte und Schicksal dem Thema „über die Art hinaus“. Darin weist er darauf hin, dass wir in Zukunft „nicht mehr von unseren natürlichen Grenzen bestimmt sein werden, sondern von der Tatsache, dass wir diese überwunden haben“ . Zu den Grenzen, die der Mensch überwinden wird, zählt Schiavone sogar den Tod: „Ich bin davon überzeugt, dass meine Generation und die unserer Kinder die letzten sein werden, die noch mit der Erfahrung des Todes, so wie er unserer Art bisher begegnet ist, rechnen müssen.“

Diese endlose Transformation soll den Menschen „über den Menschen hinaus“ führen und so den Bestand und die Dauerhaftigkeit seiner Natur auflösen.

Der Feind, den die Revolution heute besiegen will, ist der von Gott geschaffene Mensch. Der naturgegebenen, christlichen Ordnung wird eine zutiefst anti-natürliche und anti-christliche Ordnung entgegengestellt.


Menschliche Natur und Adel

Benedikt XVI. hat zu Recht hervorgehoben, dass „in letzter Zeit jede juristische Regelung sowohl auf interner als auch auf internationaler Ebene ihre Legitimation von der Verwurzelung im Naturgesetz herleitet“ , und dass „kein von den Menschen aufgestelltes Gesetz die vom Schöpfer ins Herz des Menschen gelegte Norm umstürzen darf, ohne dass die Gesellschaft selbst auf dramatische Weise in ihrer unverzichtbaren Grundlage erschüttert würde“ .

Die Verteidigung des Naturgesetzes beschränkt sich jedoch nicht allein auf den theoretischen und begrifflichen Aspekt. Die menschliche Natur verteidigt sich auch selbst, indem sie naturgemäß lebt, das heißt in Übereinstimmung mit einem allen Menschen gemeisamen unveränderlichen, ewigen Gesetz. Wer sich in seiner Lebensweise an die Natur und die Vernunft hält, lebt edel. „Adel ist die Vollkommenheit der Natur selbst in allen Dingen“, behauptet Dante im IV. Abschnitt seines Gastmahls . Der Adlige lebt nach der Perfektion der Natur selbst, die die menschliche Natur in Benehmen, Umgang und Sprache erhebt.

Es ist keineswegs nicht verwunderlich, dass Plinio Corrêa de Oliveira sein letztes Werk dem Adel und den traditionellen Eliten gewidmet hat, handelt es sich doch um eine klare Botschaft und einen deutlichen, an den Westen gerichteten Appell in dieser Richtung.

Der Adel hat oft die guten Sitten und den Gebrauch der gesellschaftlichen Beziehungen bewahrt, dabei aber ihren tieferen Sinn aus den Augen verloren. Es ist daher notwendig, diesen gesellschaftlichen, menschlichen Beziehungen ihre eigentliche Bedeutung zurückzugeben. Natürlich braucht der Adel, um überleben zu können, wirtschaftliche und politische Kraft, doch Macht und Finanzmittel bedürfen zu ihrer Legitimierung einer vom Dienst am Gemeinwohl inspirierten Weltanschauung. Plinio Corrêa de Oliveira hat das Wesen des Adels und der traditionellen Eliten im Dienst am Gemeinwohl gesehen, und dieser Dienst wird auf dem Wege der unblutigen Übernahme von Pflichten und Verantwortung in die Tat umgesetzt.

Der Hauptgrund für die Geburt des Adels lag in der Verteidigung der bedrohten Gesellschaftsordnung in den finsteren Jahrhunderten, die zwischen dem Niedergang Roms und dem Licht des Mittelalters lagen.

Damals erfüllte er seine Aufgabe vor allem durch die Übung kriegerischer Tugend, die Mut, Kampfgeist, Todesverachtung und Ehrgefühl voraussetzt. Unter all diesen Gefühlen nimmt sicherlich das Ehrgefühl den vornehmsten Platz ein, denn dieses macht gewissermaßen das Wesen des Adels aus. Ehre hat nichts mit Eitelkeit oder Stolz zu tun. Ehre setzt vielmehr eine gewisse Demut voraus, denn allein die Demut macht uns von uns selbst los und lässt uns große Dinge vollbringen. Der Grad an Adel eines Menschen wird an seiner Fähigkeit gemessen, sich von den materiellen Dingen zu befreien, obwohl er mitten im Reichtum lebt.

Der Ausdruck „Ehrenwort“ sollte uns zum Nachdenken anregen. Die Verbindung dieser beiden Begriffe, Wort und Ehre, bringt die Kraft des Wortes, seine heilige Natur zum Ausdruck. Die Unveränderlichkeit des Ehrenwortes weist nicht nur auf eine religiös sakrale Dimension hin, die an das schöpferische Wort Gottes erinnert, sondern verweist auch auf eine philosophische Dimension. Sie bestätigt das Prinzip, auf dem das christlich-abendländische Denken beruht, nämlich das Prinzip der Identität und des Widerspruchs, wonach sich das, was sich selbst gleich ist, nicht ändert. Mit einem Wort, das metaphysische Prinzip der Fortdauer der Tradition.

Das Ehrenwort schließt nicht nur eine Metaphysik, sondern auch eine auf die menschliche Person gegründete Anthropologie ein. Ehre heißt Achtung sich selbst und den andern gegenüber. Sie geht von der Überzeugung aus, dass der Mensch vor allem Person ist. Sie besteht aus dem Gefühl, dass es etwas Höheres gibt als das eigene Vergnügen und Interesse. Wer ein edles Gemüt besitzt, hebt sich von den niederen, vulgären Dingen ab, steht über ihnen. Diese Sicht ist nicht zoologisch ausgerichtet, sondern geistig. Sie ist dem Menschen eigen, der weiß, dass das materielle Leben nicht das höchste Gut darstellt. Man kann zwar Ehrgefühl haben, auch wenn man religiösen Fragen skeptisch gegenübersteht, wer jedoch einen tiefen Glauben an Gott besitzt, kann niemals das Ehrgefühl entbehren.

In Deutschland ist 1994 ein schönes Buch von Marion Gräfin Dönhoff (1909-2002) unter dem Titel Um der Ehre willen erschienen. Die Verfasserin, eine preußische Aristokratin mit fortschrittlichen Ideen, Mitherausgeberin der Wochenzeitung „Die Zeit“, beschreibt darin Erinnerungen an ihre Jugend sowie die kulturelle und gesellschaftliche Atmosphäre, in der die Gedanken und Gefühle entstanden sind, die zum Attentat des Grafen Klaus Schenk von Stauffenberg gegen Hitler geführt haben. Der Widerstand des deutschen Adels gegen den Nationalsozialismus hatte seine Wurzel vor allem im Ehrgefühl. Es ging hierbei nicht um irgendeine Sehnsucht nach der Vergangenheit. Gräfin Dönhoff schreibt in ihren Lebenserinnerungen, dass die höchste Form von Liebe vielleicht die sei, die sich auf das richtet, was uns nicht mehr angehört.

Das scheinbar mit den Jahrhunderten des Rittertums untergegangene Ehrgefühl erweist sich in Zeiten des Verfalls besonders lebendig und nährt sich aus den geistigen Quellen einer Menschennatur, die sich im Laufe der Jahrhunderte nicht verändert.

Heute ist ein Plan im Gange, der die Zerstörung der menschlichen Natur zum Ziele hat und damit beginnt, dass theoretisch die Existenz einer bleibenden, unveränderlichen Natur des Menschen geleugnet wird. Am Ende führt dies zur Schaffung eines gespaltenen, aufgelösten Menschentyps, der keine Identität und keine Erinnerung mehr hat, wie etwa die entwurzelten jungen Menschen, die wir in unseren Banlieux finden. Der Adel kann heute seine Sendung in der Verteidigung und in der Wiederherstellung der menschlichen Natur wiederfinden und damit dem Aufruf folgen, der gestern von Pius XII. und in unseren Tagen von Benedikt XVI. nicht nur an die Katholiken, sondern an alle Menschen guten Willens und jeden Glaubens gerichtet wurde.

Die Wiederherstellung der menschlichen Natur beginnt mit der Behauptung eines Naturgesetzes, die auf der Beständigkeit der menschlichen Natur gründet, und findet ihren Abschluss in der Wiederentdeckung eines edlen, erhabenen Menschentyps, der seine Wurzeln im Gedächtnis und in der Tradition hat. Dieser Menschen wird vor allem das Ehrgefühl zurückgewinnen und mit ihm eine Haltung, die die Jahrunderte überdauert hat und die weder an den Besitz von Ländereien, noch an den Einsatz von Pferden und den Gebrauch von Waffen gebunden ist.

Der Mensch kann sich erheben, kann sich aber auch erniedrigen, wenn er nämlich nicht dem Vernunftgesetz seines Geistes, sondern dem biologischen seiner Instinkte folgt. Dem edlen Menschentyp steht dann das Bild des modernen und postmodernen, seelisch aufgelösten, seiner Identität und Wurzeln baren Menschen gegenüber.

So ist es also notwendig, das Naturgesetz zu kennen und zu lieben und auf edle Weise nach der Natur zu leben. Doch das ist nicht genug. Gott hat dem Menschen ein übernatürliches Ziel angewiesen und Jesus Christus ist Mensch geworden und hat bis zum Tod gelitten, um die gefallene menschliche Natur zu erlösen. Um dem Naturgesetz folgen zu können, bedarf es des übernatürlichen Lebens der Gnade, denn allein der Christ kann in seinem Leben die Natur zur Vollkommenheit bringen. Deshalb darf sich der Christ nicht mit einer allein auf das Naturgesetz gegründeten Gesellschaft zufriedengeben. Sein Wunsch muss die Bekehrung der ganzen Welt zum Christentum sein.

Aus diesem Grunde geht es uns nicht allein darum, die natürliche Ordnung zu verteidigen, sondern es geht uns um eine natürliche christliche Ordnung. Wir begnügen uns nicht mit dem natürlichen Sittengesetz, sondern streben das natürliche christliche Sittengesetz an.

Darum wollen wir die Wiedererstehung einer durch und durch christlichen Gesellschaft, denn wir sind uns bewusst, dass die Natur ohne das Christentum verfällt, so wie auch die Gnade ohne die natürliche Ordnung nicht gedeihen kann, denn die Gnade setzt – nach den Worten des heiligen Thomas – die Natur voraus. Das Gnadenleben setzt die Beachtung des Naturgesetzes voraus.

Deshalb bitten wir die Kirche um das Leben der Gnade, das sie uns in ihren Sakramenten, besonders aber in der Eucharistie schenkt. Und wir erbitten es von der Gottesmutter, der Mittlerin aller Gnaden.

Wir haben uns heute hier eingefunden, um die Veröffentlichung eines Buches zu begrüßen, das uns den Anstoß zu tiefem Nachdenken gibt und uns zum Handeln einlädt. Ein Buch, das als Autoren zwei große Protagonisten des 20. Jahrhunderts zusammenführt: Eugenio Pacelli, der als Papst den Namen Pius XII. trug und dessen Todestag sich am 8. Oktober zum fünfzigsten Mal gejährt hat, und Plinio Corrêa de Oliveira, dessen Geburtstag sich am 13. Dezember zum hundertsten Mal jähren wird. Vom Himmel aus führen sie heute ihre und unsere Schlacht gegen die Revolution weiter.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen